Neben zahlreichen Novellen und Erzahlungen verfaßte Leskov in seiner spateren Schaffensphase, in der Zeit zwischen 1886 und 1891. eine Gruppe von Erzahlungen, die er als 'Legende' bezeichnete. Diese Legendenerzahlungen stellen literarische Umarbeitungen der Geschichten frommer Menschen dar, die in der Zeit des fruhen Christentums entstanden waren. Die Stoffe entnahm der Autor dem sogenannten Prolog, der byzantinisch-kirchenslavischen Sammlung kurzgefaßter Heiligenleben. Die eigentliche Funktion der Legende ist die Erbauung des Volkes bzw. des Rezipienten durch die Darstellung von vorbildhaften Menschentypen. In der Kirchengeschichte fungiert die Legende als unentbehrliche Voraussetzung fur die Kanonisierung eines Heiligen. Im Verlauf der Geschichte wird sie je nach Bedarf des jeweiligen Zeitgeistes und je nach Intention der Verfasser auf verschiedene Weise rezipiert und neu geschrieben. Legendengeschichte ist also nichts anderes als Dichtungsgeschichte. Die Gattung der Legende umfaßt zwei Richtungen: die kirchlich anerkannte, kanonische Legende und die von der Kirche verbotene, apokryphe Legende. Zu der letzteren gehoren Legenden, die nach offizieller kirchlicher Auffassung "falsche" Lehren enthalten oder in denen statt der erbaulichen Funktion das Element der Unterhaltung zu dominant erscheint. Die Untersuchung uber die Gattung der Heiligenlegende in der russischen Literaturgeschichte zeigt, daß die Grenze zwischen dem Kanonischen und dem Apokryphen nicht eindeutig zu ziehen ist. Im Verlauf der Geschichte wurde sie mehrfach je nach dem Interesse der herrschenden Schichten neu gezogen. Das Verfahren der Kanonisierung stellt einen Prozeß der Selektion und Ausschließung dar, wodurch ein Trennungsstrich zwischen dem Kanonischen und Apokryphen, dem Dominanten und dem Verdrangten gezogen wird und eine strikte Hierarchie zwischen ihnen entsteht. Die kirchliche Institution und ihre Ideologie stellen hierbei eine maßgebende Große dar. In der Geschichte ereignet sich der Kanonisierungsprozeß in vielen Fallen bei der Zentralisierung der politschen Macht und bei der Errichtung einer autoritaren Herrschaft. Leskov, der sich nicht nur mit den volkstumlichen Uberlieferungen wie Volkslegende, Sage, Sprichwort, Marchen usw., sondern auch mit den kirchlichen Gattungen wie Heiligenlegende und Ikone auskannte, brachte in verschiedenen erzahlerischen Formen sein Interesse fur die Gattung Legende und ihren Entstehungs- und Entwicklungsprozeß sowie ihre verschiedenen Erscheinungsformen zum Ausdruck, so daß legendenhafte Elemente in fast allen seinen Werken, nicht zuletzt in dem Pravedniki-Zyklus, deutlich spurbar sind. Die Einstellung des Autors zur Gattung Legende ist jedoch ambivalent. Der Schiftsteller, der den dichterischen-fiktiven Wesenszug der Legende kannte, bevorzugte fur seine Erzahlungen offenbar apokryphe Quellen gegenuber kanonisch anerkannten, denn er war der Auffassung, daß man aus apokryphen Schriften ein lebendigeres und unmittelbareres Lebensbild der alten Zeit erhalt als aus kanonisierten Texten, die auf dem institutionalisierten kirchlichen Dogma basieren. Aus der eingehenden Textanalyse der Erzahlung 《Skomoroch Pamfalon》 ergibt sich. daß es sich bei der Legendendichtung Leskovs keineswegs um einfache Restauration bzw. Nacherzahlung der alten Legenden handelt. Die Legendendichtung Leskovs stellt ein Verfahren der 'Dekonstruktion' dar: ein Verfahren, charakteristische Indizien der kirchlichen, institutionellen Kanonisierung, die in traditionellen Heiligenlegenden dargestellt werden, durch individuelle kunsterische Umarbeitung zu unterminieren und zu dekonstruieren. In seiner Legendendichtung treten verdrangte Elemente aus kanonisierten Heiligenlegenden in den Vordergrund. wahrend dominante Elemente in Frage gestellt werden. Der Erzahler fungiert hierbei nicht nur als Vermittler der alten Legende, sondern als Interpret, der aus der Distanz seinen Gegenstand beurteilt und kommentiert. In der Legende 《Skomoroch Pamfalon》 kommt die Dekanonisierung der in herkommlicher Weise als 'heilig' angesehenen Gegenstande deutlich zum Ausdruck. Im Gegensatz zu der monologischen und einstrangigen Konstruktion der Prologlegende baut der Autor seine Legendenerzahlung auf einen Prinzip des Kontrastes auf, das mit der dialogischen Konstruktion der Erzahlung zusammenhangt. In der Legende von dem selbstgefalligen Saulenheiligen und dem gottgefalligen Gaukler wird die traditionelle Hierarchie zwischen dem Hohen und Niedrigen und dem Heiligen und Profanen sowie dem Elitaren und von der Gesellschaft Ausgestoßenen destruiert. Durch das Verfahren des 'karnevalistischen Wechsels', der Umstellung/Umstulpung des Hohen und Niedrigen im bachtinsehen Sinne werden ferner tradtionelle Wertvorstellungen umgewertet. Die belehrende Intention des Autors ist in seiner Legendendichtung unubersehbar. Seine Belehrung wird jedoch in der Weise eines' sokratischen Dialog' durchgefuhrt. Im Gegensatz zu den tradierten Heiligenlegenden. in denen die Vermittlung der kirchlichen Lehre durch eine kategorische Weisung oder einen furchterregenden Effekt mit Hilfe des Wunders vollgebracht wird. laßt Leskov den Leser selbst durch seine Erzahlung mit exemplarischem Zug rasonieren und zur Einsicht kommen. Es laßt sich feststellen, daß das Verfahren der dialogischen Kommunikation das wesentliche Konstitutionsmerkmal der Legendendichtung Leskovs darstellt. Der Autor beabsichtigte mit seiner Legendendichtung, die Gattung Legende von ihrer mystischen Aura bzw. ihrer religiosen Mystik zu befreien und eine neuzeitliche Legende zu schreiben, die mit der menschlichen Vernunft in Einklang stehen konnte. Leskovs Legendendichtung ergab sich aus seiner Auffassung vom Christentum als einer lebendigen Lebenslehre. nicht als bedingungslose Ehrfurcht vor Gott, und aus seinem lebenslangen Versuch, die Religion und die Vernunft in Einklang zu bringen. Die Bedeutung der Legendendichtung Leskovs wird noch großer. wenn man jene konservativ orientierte, restaurative gesellschaftliche Situation unter der Regierung Alexanders III. berucksichtigt, in der das patriarchalische, 'monologische' Gesellschaftssystem in hochstem Maße dominant war.